Recht auf Privatsphäre - Interview mit Philippe Burger aka Pipo Langstrumpf
Was das Republik Magazin kürzlich enthüllt hat, war zu erwarten. Hier ist ein Verfechter der Privatsphäre, den der Mainstream gerne ignoriert.
Interview Joyce Küng
THE VOICE OF JARS: Also, erzähl uns, wer Du bist und warum Du Dich mit digitaler Überwachung beschäftigst.
PIPO: Also ich bin der Philippe Burger, besser bekannt als Pipo Langstrumpf. Ich bin seit ungefähr 2010 Mitglied der Piratenpartei Schweiz und seit 2019 bin ich richtig aktiv geworden. Das hat damit zu tun, dass ich damals das Gefühl hatte, ja das ist so ein bisschen der letzte Moment, um die digitale Dystopie zu verhindern. Ich komme aus einer reichen Familie. Mein Vater ist sehr früh gestorben, und ich habe mein Erbe in verschiedene Organisationen gesteckt, die sich für den Schutz der Privatsphäre gegen Überwachung einsetzen.
Das Recht auf Privatsphäre ist ein Menschenrecht. Es steht in allen Verfassungen. In der amerikanischen Verfassung, in unserer Verfassung, in der europäischen Menschenrechtscharta, in der Menschenrechtscharta der UNO, überall gibt es dieses Menschenrecht auf Privatsphäre. Und ich glaube, es ist das Menschenrecht, das am meisten verletzt wird.
THE VOICE OF JARS: Ist das belegt oder wie kommst Du darauf, dass dieses Menschenrecht am meisten verletzt wird?
PIPO: Es ist offensichtlich, dass es nicht eingehalten wird. Edward Snowden hat es aufgedeckt, dass es eine Massenüberwachung gibt, eine verdachtsunabhängige Massenüberwachung der ganzen Welt. Man hat herausgefunden, dass die NSA (National Security Agency: grösster Auslandsgeheimdienst der USA) uns alle ausspioniert und dafür mit Firmen wie Google, Facebook, Amazon und so weiter zusammenarbeitet. Das war für viele ein Schock, auch für mich. Aber kein besonders grosser Schock, weil ich das schon erwartet habe, dass die technischen Möglichkeiten ausgenutzt werden. Bei uns im Westen ist es definitiv das Menschenrecht, das am meisten missachtet wird. Als Staat hält man sich nicht daran.
In der Schweiz gibt es den Artikel 13 der Bundesverfassung, in dem es um den Schutz der Privatsphäre geht: «Jede Person hat Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihres Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs.» Das betrifft unsere Kommunikation mit digitalen Mitteln, also die Telekommunikation, aber auch die Briefpost soll geschützt werden.
PIPO: Dann gibt es noch ein Gesetz in der Schweiz, das heisst «Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (BÜPF) und da steht drin, dass in der Schweiz eine verdachtsunabhängige Massenüberwachung vorgesehen ist. Also egal, ob Du ein ganz normaler Mensch bist und noch nie etwas Schlimmes gemacht hast, deine Post wird überwacht, und zwar, wo und wann Du wem etwas geschickt hast.
ℹBÜPF, Art. 19, Abs. 2: «Die Anordnung kann die Überwachung in Echtzeit und die Herausgabe der aufbewahrten Randdaten des vergangenen Postverkehrs (rückwirkende Überwachung) vorschreiben»
Dazu gehört auch die Überwachung des Fernmeldeverkehrs. Dabei geht es nicht nur um das Wer, Wann und Wo, sondern auch um die Inhalte (sogenannte Randdaten, Anm. d. Red.), die überwacht werden. Das ist in Artikel 26 (Pflichten der Fernmeldedienstanbieterinnen) geregelt.
BÜPF klingt etwas harmlos, aber es ist wirklich massiv, wie das dem Recht auf Privatsphäre widerspricht.
THE VOICE OF JARS: Also es ist schon interessant, ich habe jetzt das BÜPF noch nie ganz durchgelesen, aber ich glaube, ich sollte das dringendst mal durchlesen. Ich habe ein paar Zitate auf Deinem X-Profil gesehen.
PIPO: Ja, es steht zum Beispiel auch in unserer Bundesverfassung, dass der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist, und das merkt man schon am Titel des Gesetzes, dass es dort schon in den Kerngehalt des Grundrechts (auf Privatsphäre) eingreift. Und zwar verdachtsunabhängig. Manche Grundrechte gelten nicht absolut. Wenn jemand eine Straftat begangen hat, dann hat er gewisse Grundrechte verwirkt, dann wird er eingesperrt, und das ist auch richtig, meiner Meinung nach. Aber es kann nicht sein, dass Menschen, die nie etwas verbrochen haben, grundlos überwacht werden.
THE VOICE OF JARS: Vor allem Menschen, die kein ausdrückliches Einverständnis gegeben haben…
PIPO: Ja, das betrifft uns alle. In der Schweiz wird der Post- und Fernmeldeverkehr überwacht. Man kann auch sagen, in allen anderen Ländern um uns herum wurde das für verfassungswidrig erklärt, aber die Schweiz hat kein Verfassungsgericht. Auch dieses Gesetz (BÜPF) ist bis heute nicht zur Abstimmung gekommen. Es gibt Leute, die sagen, die SP sei schuld, dass es nicht geklappt hat, oder die JUSO. Ein gewisser Herr Wermuth (Cédric Wermuth, aktuell Nationalrat und Co-Parteichef der SP Schweiz, damals Co-Präsident der SP Aargau) hat da irgendwie zwei Wochen vor der Deadline gesagt, dass die Unterschriftensammlung gescheitert ist. Dabei wäre es damals möglich gewesen.
THE VOICE OF JARS: War das vor kurzem, 2021 oder 2022?
PIPO: Nein, nein, das ist schon viel länger her. Das war 2016. Also das BÜPF ist schon lange in Kraft und es gibt auch einen Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Aber der dauert so lange, jetzt sind bald zehn Jahre vorbei und es ist nichts passiert.
THE VOICE OF JARS: Du hast gesagt, dass Du seit 2019 aktiv bist. Was war der Auslöser dafür, dass Du gesagt hast: ‘Jetzt muss ich etwas tun’?
PIPO: Ja, ich denke, es sind verschiedene Dinge zusammen-gekommen. Das BÜPF war ein Grund. Hätte ich mich damals mehr engagiert, wäre das Referendum wahrscheinlich zustande gekommen. Das andere war die Diskussion mit dem Cambridge Analytica Skandal. Da ging es darum, dass Facebook persönliche Daten verwendet hat, um Leute in verschiedene Richtungen zu «nudgen».
ℹ «Nudge» (Englisch für ‘stupsen’) ist ein Begriff aus der Verhaltensökonomik. Er bedeutet so viel wie ein freundlicher Denkanstoss. Die Idee stammt von den Wissenschaftlern Richard Thaler und Cass Sunstein, die darüber in ihrem Buch «Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstösst» geschrieben haben. Ein Nudge ist eine Methode, wie man das Verhalten von Menschen beeinflussen kann, ohne Verbote oder Gebote einzusetzen oder wirtschaftliche Anreize zu verändern. Der Begriff wird nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Bereichen wie der Marketing-Kommunikation verwendet. (Wikipedia)
Es war ans Tageslicht gekommen, weil jemand sehr unzufrieden war mit dem Wahlsieg von Donald Trump. Es war ein Linker. Als ich mich näher damit beschäftigt habe, habe ich herausgefunden, dass schon Obama 2012 personalisierte Propaganda eingesetzt hat. Man kann sich das so vorstellen: Man hat zielgenaue Daten darüber, wie jemand politisch tickt, und dann kann man etwas machen, was sehr effektiv ist, anstatt allen die gleiche Botschaft zu präsentieren. Zum Beispiel: 'Wir sind für schärfere Waffengesetze' und dann gezielt Leute ansprechen, die so denken. Oder man kann Negative Campaigning machen, indem man Leute davon abhält, wählen zu gehen.
Wenn ich als Campaigner weiss, dass meine Klientel nicht mehr wahnsinnig viele Wähler mobilisieren kann, dann kann ich meinen Gegner demobilisieren, d.h. ich kann gezielt Leute vom Wählen abhalten, die sonst meinen politischen Gegner wählen würden. Das war sicher auch ein Grund, warum ich gesagt habe, jetzt sind wir an einem Punkt, wo man durch diese Überwachung die Menschen so gut manipulieren kann, dass am Ende die freie Meinungsbildung gefährdet ist.
THE VOICE OF JARS: Ich habe mir auch mal mein politisches Profil angeschaut, was Facebook über mich gemacht hat. Und da steht eben, dass ich nicht mehr in meinem Heimatland wohne und mich für dies und das interessiere und Gerechtigkeitssachen und da waren ganz viele Sachen drin und ich hab gedacht «oh krass die wissen viel über mich».
PIPO: Ja, das kann Google auch. Ich habe mir mal angeschaut, was Google alles über mich weiss. Allein die Tatsache, dass dort gespeichert ist, was ich mir alles an YouTube-Videos angeschaut habe, führt dazu, dass man ein mega-genaues Profil von mir erstellen kann. Ich habe mir zum Beispiel ein Key-Locker-Video angeschaut, das erklärt, wie man Schlösser knackt. Ich hoffe natürlich nicht, dass man mich für einen Kriminellen hält. Ich wollte zu Hause eine alte Truhe öffnen, zu der ich den Schlüssel nicht mehr finde.
THE VOICE OF JARS: Das ist schon krass und überall dieser Login-Zwang und diese Passwörter und so. Und ja, eigentlich ist es vorbei mit der Privatsphäre, oder?
PIPO: Ja, es gibt Leute, die sagen, dass das Recht auf Privatsphäre vorbei ist. Es gibt dennoch Möglichkeiten, sich zu schützen, zum Beispiel mit Verschlüsselungstechnologien. Es gibt Kurznachrichten-Apps wie Signal oder Threema, wo man so kommunizieren kann, dass das BÜPF nicht mehr richtig funktioniert. Oder auch PGP (Pretty Good Privacy) für E-Mails, das ist etwas komplizierter, nicht so benutzerfreundlich, aber es funktioniert auch, damit der Inhalt von E-Mails nicht mitgelesen werden kann. Es gibt TSL (Transport Security Layer), das kann auch den Weg verschlüsseln, wie man auf eine Webseite geht und wieder zurück.
Die EU hat einen grossen Angriff gestartet, das nennt sich Chat-Kontrolle. Das wird unter dem Vorwand gemacht, Kinder zu schützen. die meisten Überwachungsgesetze wurden unter dem Vorwand eingeführt, Menschen vor Terror zu schützen. 9/11 war der Auslöser. Die USA haben das mit dem Patriot Act gemacht. Schon in den 90er Jahren gab es einen Krypto-Krieg, Crypto-Wars.
Die USA wollten verhindern, dass die Menschen ihre Kommunikation verschlüsseln können. Dem Staat gefällt es nicht, dass wir privat kommunizieren und unser Grundrecht auf Privatsphäre ausüben können.
Deshalb hat die EU den grossen Angriff gestartet, die sogenannte Chat-Kontrolle. Zum jetzigen Zeitpunkt hat zumindest das Parlament eine Position eingenommen, die gegen diese Chat-Kontrolle ist. Wir wissen aber, dass die meisten EU-Mitgliedsstaaten für die Chat-Kontrolle sind.
Es ist zu befürchten, dass diese Chat-Kontrolle kommen wird, obwohl sich das EU-Parlament derzeit dagegen ausspricht.
THE VOICE OF JARS: D.h. wenn die Chat-Kontrolle kommt, haben sie dann einfach zu jeder Zeit Zugriff auf die Inhalte?
PIPO: Ja, sie wollen diese Firmen wie Threema dazu zwingen, das sogenannte Client Side Scanning zu verwenden. Das bedeutet, dass künstliche Intelligenz eingesetzt wird, die dann unsere Kommunikation auf bestimmte Schlüsselwörter untersucht und dass Bilderkennungssysteme eingesetzt werden, um illegale Inhalte zu finden. Man kann das auf der Ebene von Apps oder auf der Betriebssystemebene machen. Es ist davon ausgehen, dass es sich nur um einen Vorwand handelt Kinder zu schützen. Letztlich geht es darum, Opposition zu unterdrücken, kritische Journalisten abzuhören, ihre Quellen ausfindig zu machen. Um es zusammenzufassen: Die Chat-Kontrolle würde zu einer Massenüberwachung führen. Schon heute ist es möglich, Geräte mit Staatstrojanern zu infizieren. In der Schweiz ist dies im Nachrichtendienstgesetz vorgesehen und auch kantonale Polizeigesetze bieten die Gesetzesgrundlage für Spyware. Im Moment ist es noch so, dass zumindest Staatstrojaner nicht verdachtsunabhängig eingesetzt werden dürfen und eines Gerichtsbeschlusses eines Zwangsmassnahmengerichts bedürfen, damit der Staat alles mitlesen darf. Ausserdem ist ein gewisser Aufwand nötig, um jemandem die Spionagesoftware auf das Handy oder den Computer zu schleusen. Es ist nicht möglich Menschen auf diese Art und Weise in Massen zu überwachen, aber es kann aber trotzdem sehr problematisch sein, wie zahlreiche Enthüllungen aus dem Ausland beweisen.
In der Vergangenheit wurde «Pegasus» in verschiedenen EU-Ländern zur Überwachung von Oppositionellen eingesetzt, so z.B. in Spanien gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien oder in Griechenland gegen die Opposition.
ℹ Pegasus ist eine von der israelischen Cyberwaffenfirma NSO Group entwickelte Spionagesoftware, die verdeckt und ferngesteuert auf Mobiltelefonen mit den Betriebssystemen iOS und Android installiert werden kann. Obwohl die NSO Group Pegasus als Produkt zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus vermarktet, haben Regierungen auf der ganzen Welt die Spyware routinemässig zur Überwachung von Journalisten, Anwälten, politischen Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten eingesetzt. (Wikipedia)
THE VOICE OF JARS: Oh, krass. Und ich habe auch mal ein Interview mit Edward Snowden gesehen, das ist schon sehr lange her. Ich glaube, das war damals, als das Thema um ihn noch aktuell war, und da hat er gesagt, jede Regierung, die ein bisschen in Sicherheit investiert, ist in der Lage, Dein ausgeschaltetes Smartphone einzuschalten, ein Foto von Dir zu machen und es wieder auszuschalten.
PIPO: Ja, das ist so, wenn man den Staatstrojaner drauf hat, dann ist das Gerät komplett in der Hand der Geheimdienste, die das machen.
Das Vertrauen vieler Schweizer in unsere Sicherheitsbehörden ist gross, und ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es auch hier Skandale gegeben hat. Der grosse Fichenskandal hat gezeigt, dass über 700'000 Bürger von ihren politischen Gegnern überwacht wurden. Das war die Frauenrechtsbewegung, die Atomkraftgegner, die Alternativen Grünen. Auch das war illegal.